Der Temmerer von Dresden

Versetzen Sie sich in die Zeit einer spätmittelalterlichen Stadt. In den engen Straßen und Gassen eines in Mauern eingezwängten, nach außen strebenden und vom Durchgangshandel und Wallfahrern stark frequentierten Ortes stehen Sie auf dem Markt zwischen laut feilbietenden Händlern samt ihren Ständen voller Tuche, Wachs, Geschirr, Weine, Kräutern, Honig, Obst, Geflügel und anderen Waren des täglichen Bedarfs. Etwas abseits feilschen wild gestikulierend Viehhändler. In einer Seitenstraße jagen Jungen mit ihren selbstgebastelten Steinschleudern umherstreunende Hunde und in der Schenke an der Ecke hört man die Männer lautstark bei einem gepflegten Würfelspiel diskutieren. Mittendrin versucht ein Gaukler mit seinen kleinen Unterhaltungseinlagen auf sich aufmerksam zu machen und am Ende der Gasse hört man zum wiederholten Male schwere Holzwagen durch eines der Stadttore rumpeln.
Nur ein Mann, schon von weitem erkennbar an seiner Kleidung, läuft ruhigen Schrittes durch die Gassen, grüßt zuvorkommend hin und wieder die Entgegenkommenden, lässt sich jedoch auf kein Gespräch ein. Er weiß: viel zu tief sitzt der Argwohn - auch Volksglaube - ihm gegenüber, ist seine Arbeit und die Arbeit seiner Knechte schon von weitem ruchbar, ist sein Beruf zwiespältig beäugt, derer seiner Knechte gar unehrlich, wie in früheren Zeiten der der Leineweber, Schäfer, Bader und Müller, ist sein Beruf ein Makel oder andersrum.
Er ist Scharfrichter, Henker, auch als Nachrichter, Tortori, Hoher, Züchtiger, Temmerer, Skoriant oder Freiknecht bekannt.
Sein Haus ist nach außerhalb der Stadtmauern verlegt, zusammen mit seinen Knechten bewohnt er einen Hof nahe der ältesten Richtstätte der Stadt.
Doch obwohl man ihn gern in erster Linie mit Blut und Folter in Verbindung bringt, weiß er: seine Geschäfte laufen gut. Verschiedene, über Generationen hinweg immer wieder erneuerte Privilegien sichern ihm, seiner Familie und seinen Knechten das Abdeckereigeschäft, seinem Hauptgeschäft. Doch auch durch den Aberglauben der Leute kann er seinen Geldbeutel aufbessern. Zudem machen ihn seine berufsbedingten Kenntnisse über die Anatomie des Menschen für die verschiedensten Bewohner wieder wertvoll, denn er praktiziert - wenn auch vom Landesherrn nicht gern gesehen - als Chirurg. Bisweilen hörte er aus eigenen Kreisen, dass sich Söhne seiner Sippe gar als Ärzte niederließen. Bei seinem Rundgang durch die Stadt achtete er besonders auf frei herumlaufende Hunde, welche bei Überhandnahme durch seine Knechte eingefangen und in der Meisterei getötet wurden, was ihm und seiner Sippe auch die Bezeichnung eines "Hundeschlägers" eintrug. Gleichfalls hatte er dafür zu sorgen, dass das Aas in den Gassen beseitigt wurde.
Und da sind dann noch die Selbstmörder, welche in ihrer Ausweglosigkeit zur Tat geschritten und hiermit gegen jede grundsätzlich christliche Moral verstoßen hatten. Des Scharfrichters Knechte begruben diese - auch eher widerwillig - entweder noch an Ort und Stelle, unterm Galgen oder in einem entlegenen Winkel des Friedhofes.
Wer also war dieser Mann, der einerseits einen separaten Tisch im Lokal zugeteilt bekam, wo sich keiner zusetzen durfte, andererseits durch sein Geschick Wunden zu heilen wusste, letztlich aber der lange Arm des Gesetzes war und dieses Gesetz am Deliquenten auszuüben hatte, wo ein Schuldspruch ihn zum Herren über Leben und Tod werden ließ?