Wenn man heutzutage einen Mediziner konsultiert, so wissen wir um die "Halbgötter in weiß", um deren schulmedizinische Ausbildung und zweifeln vielleicht gar manchmal bei von denen gestellten Diagnosen. Vielerlei Volksglauben ist uns - mal mehr, mal minder - verloren gegangen, und doch schütteln manche von uns den Kopf, wenn jemand von Naturheilkundlern, von Akupunktur oder Homöopathie zu reden anfängt.
Wen wundert es da noch, dass vor nicht allzu vielen Generationen der Volksglaube auf die medizinischen Leistungen von Badern, Barbierern, Marktschreiern, Kurpfuschern und ... Scharfrichtern vertraute?! In Holland durften Scharfrichter schon im 7. Jahrhundert Brüche und Luxationen heilen.
Was bewog einen Städter oder Bauern also, sich mit Hilfe an die Scharfrichter zu wenden, stellte doch alleine schon der Kontakt zu denen die eigene Ehrlichkeit in Frage? Scharfrichter standen in dem Ruf, Krankheiten, welche durch Zauberei entstanden waren, heilen zu können, und mussten, da sie die Aussagen der Hexen in der Folterkammer mit anhörten, demgemäß auch Kenntnisse in der schwarzen Kunst besitzen. Da sollte das Richten von Brüchen, Entfernen von Buckeln oder Beulen doch verständlicherweise eines ihrer einfachsten Übungen sein?! Nicht nur das niedere Volk besuchte den Scharfrichter in diesen ganz eigenen Fragen, auch die gehobenen Schichten konsultierten ihn gerne. Friedrich I. König in Preußen priviligierte gar am 02. Mai 1703 den Berliner Scharfrichter Martin Koblenz zu seinem Leib-Medicus. Als Dank hierfür überreichte Letzterer dem König sein sogenanntes Familien-Richt-Schwert, mit welchem er selbst 103, sein Vater 19 und sein Großvater 68 Personen enthauptet hatten.
In Sachsen war dies nicht anders. Scharfrichter hierzulande das Recht, äußerliche Uebel, namentlich auch Beinbrüche, zu heilen. Noch 1746 ward es ihnen … durch ein besonderes Mandat gestattet; erst Anfang des 19. Jh. ward die Erlaubniß gesetzlich aufgehoben. Einer der merkwürdigsten Belege zu diesem Rechte findet sich aus dem Jahre 1624 vor, wo der Kanzler Wolf von Lüttichau am 22. Juli in Dresden ein Bein brach. Sein Wundarzt war – Meister Christoph [Polz], der damalige Scharfrichter in Dresden. Der Kurfürst Johann Georg I. sandte zwar seine Leibärzte und einige Barbiere, allein der Kanzler ersuchte seine Kollegen, ihn dießfalls zu entschuldigen, weil „Meister Christoph dadurch irre und stutzig gemacht, oder wohl selbst von der Kur abgeschreckt werden dürfte“. Er ließ sich nur die innere Behandlung des Leibarztes, Dr. David Faber, gefallen. Die Kur dauerte gegen 6 Wochen und ging glücklich von Statten.
Weniger abergläubisch behandelte der Scharfrichter Verletzungen, wenn andere Berufsgruppen mit ihrem Latein am Ende waren, wie nachfolgender (wohl weit überspitzter) Fall beweist:
1632: 10. Aug., da der Kayserliche Graff und Oberste Tzschirein aus Böhmen gegen Annaberg einfiel, kam eine Parthey Crabaten in Königswald, hieb 9 Personen nieder und that grossen Schaden. Georg Müller, ein Annabergischer Bretschneider, wurde ungemein sehr verwundet, er hatte einen Schuß zur Hand hinein, und zum Ellenbogen wieder heraus, das gantze Achselbein war mit einen Sebelhieb gespalten, und ein Loch mit einen Spitzhammer in Kopf geschlagen, ein Beil in die Brust geworfen, daß es stecken blieb, und man das Hertz im Leibe kunte liegen sehen. Dennoch hat sich dieser tauerhaffte Mann den Crabaten entrissen, und in einen Teich salvirt, darinnen er eine Stunde lang in Wasser biß über die Arme gestanden, biß die Feinde aus dem Dorff abgezogen, von dannen ist er drey Tag im Wald unverbunden gelegen, und 14 Tage daselbst geblieben, darvon die Schäden verzweiffelt böse wurden, daß kein Barbirer den kalten Brand löschen kunte, doch ist ervom Scharffrichter in Joachimsthal glücklich geheilet worden, ob er gleich schon 60 Jahr alt war, hat auch darnach noch lange gesund und lustig gelebet.
Ähnliches zeigt folgende Geschichte.
1688: gehet Zacharias Büttner, eines Rohrschmieds Sohn, 12 Jahr alt, beym Niederschlag an das Rad hinan, beschauet den Böhrer, damit die Büchsenläuffte ausgebohret werden, kommt aber zu nahe mit seinen dicken krausen Haaren, daß ihn der Böhrer hinten beym Schopf ergreifft, und die gantze Schwarte von der Mittel-Stirn an nebenst den Schläfen hinunter biß ans Ohrläpplein, und im Nacken, gantz und gar mit Ohren, Haut und Haar herunter reisset, daß nur beyde unterste Ohr-Läpplein stehen blieben. Er wurde vom Wiesenthaler Wund-Artzt als ein todter Mensch angenommen, und so weit geheilet, daß sich die Haut 2 Finger hoch über die Stirn und um den Schläfen sehr zerissen, das Pericranium [Knochenhaut des Schädeldaches] auch entzwey, das rohe Fleisch auff dem Kopf alles schwammigt und keine Heilung wollte zulassen, darbey viel gefährliche Spasmi ihm den Kopf ins Genicke zogen und die Hände krumm rissen, auch den Mund verschlossen, daß er immer muste auffgeschraubet werden, und der Chirurgus ihn für desperat [hoffnungslos] hielte, wurde der Patient einem Scharffrichter in Böhmen übergeben, bey dem er aber nach Verlauff 6 Wochen gestorben.
Um die Aufgabenbereiche von Chirurg, Barbierer bzw. Bader klarer zu trennen, zeigt sich der Landesherr mit diesen konform, befiehlt er doch in einem Anschreiben an den Lommatzscher Scharfrichter:
Von Gottes Gnaden, Friedrich August, König in Pohlen. / Lieber getreuer; Was auf des Barbierers, Alexii Justi Saupens, hinterlaßener Wittwe Rosinen und des Baders zu Lommazsch, Johann Gottfried Hähnels über den Nachrichter daselbst, Johann Caspar Hoffmannen, des von diesem unternommenen Curirens halben, geführte Beschwerde, und unsere vom 17. Juni a.c. ertheilte Verordnung, du am 22. hujus anhero berichtet hast, das ist uns gebührend vorgetragen und verlesen worden, nun können wir zwar, daß besagten Hofmannen äusserliche Curen, an Arm- und Bein-Brüchen, auf derer Patienten Verlangen! zu verrichten, gestattet werden, geschehen lassen, begehren aber hiermit, du wolltest ihn, daß er die innerlichen Curen und Operationen mit Ablösung derer Glieder, sich enthalten solle, bedeuten. Mochten wir dir remittirung 2 Vol. act. nicht bergen, und geschiehet daran unsere Meinung. Datum Dreßden am 1. Nov. 1726. / August Beyer / Johann Daniel Hörner / An Creuß-Amtmann zu Meißen / Johann Friedrich Fleutern.
Denn das diese Eingriffe manchmal eher weniger zum Nutzen der Patienten geschah, erzählt die Einlieferung eines Jungen 1730 mit einem gebrochenen Arm in die Leipziger Facultät, wobei der von
einem Scharfrichter so fest eingeschnürt und mit Schienen gedrückt war, dass derselbe, brandig geworden, ohne Mühe und Blutverlust aus dem Schultergelenke hatte entfernt werden
können.
Auch erfahren wir unter dem Jahre 1694, dass auf dem Unter-Hammer [zu Oberwiesenthal] ein Kind gebohren ward, welches seine ex crementa ligvida durch das Manns-Röhrigen gab; Und ob wohl darzu geforderter Scharff-Richter einen Schnidt durch den Hintern gethan, ist doch keine Eröffnung anzutreffen gewesen, dahero Kind endlichen sterben müssen.
1818: Der Scharfrichter [Friedrich Wilhelm] Otto wird zu Dresden belangt, weil er Hundefett als Mittel gegen Brustleiden verabreicht hatte.
In Halle a.d. Saale liest man 1870: Die berühmte Rheumatismus-Salbe vom Scharfrichtereibesitzer Herrn J. Georg Krätz in Zeitz ist so eben wieder eingetroffen und ist nur allein zu haben bei F. W. Händler, vor dem Steinthor 6 u. beim Sattlermstr. Hrn. Matthes á Büchse zu 15 Sgr.
Das auch andere Berufsgruppen sich in der Kurpfuscherei betätigten, beweist ein Fall aus dem Jahre 1699: Daselbst unterstand sich ein Schmiedeknecht zu Pirna die Kröpfe und dicken Hälse absonderlich bei Weibespersonen zu kurieren und hatte dahero absonderlich darzu überredet eines Zimmermanns Tochter, welche sich obbemeldten Tages in seine Kur begab. Dieser öffnete er mit seiner Pferde-Lanzette den dicken Hals, mochte aber aus Unvorsichtigkeit eine Blutader getroffen haben, dahero sich die eröffnete Wunde mit heftigem Blut ergoß, da er denn, da es ihm freilich zu viel deuchte, die Wunde mit den Fingern zugehalten. Worauf in kurzem das arme Mensch zu Boden gesunken und in ihrem Blute ersticket. Der Künstler ward hierauf in die hiesige Schachtelei [Gefängnis] eingezogen und zum Doktor berufen. Weil er aber behaupten wollte, daß er zu dieser Kur sei erfordert worden und nicht freiwillig darzu gegangen, ward er heimlicherweise der Stadt und Landes verwiesen, da er sonst wohl mit dem Leben hätte büßen sollen.
Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus rückt die Verhältnismäßigkeit dieser Eingriffe wieder ins rechte Licht, wenn es da z.B. aus Bayern heißt: Die amtliche Zusammenstellung über Curpfuscherei in Bayern für das Jahr 1887 ergiebt, daß 1313 Curpfuscher gezählt wurden, daß also wiederum eine nicht unerhebliche Abnahme stattgefunden hat. Von diesen 1313 Curpfuschern waren 43 Apotheker, 6 nichtapprobirte Aerzte, 1 Wittwe eines Arztes, 464 Chirurgen, Bader und Zahnärzte, 51 Hebammen, vier Thierärzte, 1 Todtengräber, 32 Beamte und öffentliche Bedienste, 30 Geistliche, 1 Ordensschwester, 7 Lehrer, 259 Bauern, 184 Gewerbtreibende, 39 Kaufleute und Krämer, 65 Wasenmeister, 57 Dienstboten, Taglöhner und Arbeiter, 39 Privatiers und endlich 27 berufslose Personen. Von den Curpfuschern befaßten sich besonders 132 mit Bereitung und Verkauf von Arzneimitteln, 162 mit Geheimmittelhandel und sogenannten Sympathiecuren, 90 mit Homöopathie und 12 mit Heilung durch Elektricität.
Vor dem Schwurgericht in Stade wird demnächst gegen den Abdecker Zachow aus Codenberge und 80 Frauen und Mädchen meist angesehener Familien wegen Vergehens gegen die Paragraphen 218 und 219 des Strafgesetzbuchs [betr. Schwangerschaftsabbruch] verhandelt werden. Fast jede Gemeinde der Kreise Otterndorf und Neuhaus ist dabei in Mitleidenschaft gezogen. Die Praxis des Zachow soll sich bis nach Braunschweig, Hannover, Berlin und Wien erstrecken. [Dresdner Nachrichten 1898]